Mein Berlin
Tegel ist ein Lehrstück über Flexibilität
Lufthansa-Chef Carsten Spohr gehört jetzt auch zu denjenigen, die den Flughafen Tegel lieber offen lassen wollen. Noch vor einem Jahr sah er das ganz anders. Tegel hat ihn vor allem durch Leistung trotz widriger Umstände überzeugt.
Braucht Berlin künftig neben dem Flughafen Berlin-Brandenburg (BER) auch noch Tegel? Die Liste der Befürworter ist seit Mittwoch um einen prominenten Branchenkenner länger. Für Lufthansa-Chef Carsten Spohr soll Tegel auch nach der Eröffnung des BER – derzeit geplanter Termin ist im Herbst 2020 – weiter betrieben werden. Dabei hatte sich Spohr zuvor lange für die Schließung Tegels ausgesprochen. Nun also die Kehrtwende.
Dieser Schritt ist mutig, und er verdient Respekt. Denn obschon Spohr die Zustände in Tegel weiterhin für desaströs hält, wird sich das Passagieraufkommen in der Luftfahrt künftig weiter nach oben entwickeln. Rückhalt bekommt Spohr dabei nicht nur von Vertretern aus der Wirtschaft, auch das Gros der Berliner steht hinter ihm. Zur Erinnerung: Im September 2017 sprachen sich 56,1 Prozent der Hauptstädter für den Weiterbetrieb von Tegel aus. Nur der Senat blieb unflexibel: Tegel müsse dicht gemacht werden. Nachdem jetzt weitere Argumente auf den Tisch kommen, haben Berlins Bürgermeister Michael Müller und Co. die Chance, ihren Kurs zu überdenken.
Wäre die Farce um die Langzeitbaustelle BER nicht so deprimierend, man könnte fast froh sein, dass der Flughafen noch nicht offen und Tegel nicht längst geschlossen ist. Denn dann hätte es den neuen Passagierrekord von mehr als 22 Millionen Fluggästen nicht gegeben – erreicht von einem Flughafen, den weder Berliner Senat noch der Bund oder das Land Brandenburg künftig haben wollen.
Kein Geld für Instandhaltung
Berliner, die im Nordosten der Stadt leben, fassen sich vermutlich an den Kopf. Der Fluglärm raubt ihnen Ruhe und Schlaf. Im vergangenen Sommer habe ich einen Turbinenbauer besucht. Dort arbeiten Ingenieure jeden Tag daran, die Turbinen noch leiser zu machen. In wenigen Jahren soll der „Noise Carpet“ – also der Lärmteppich, den ein Flugzeug umgibt – so gut wie verschwunden sein. Leisere Turbinen, Optimierungen an der Flugzeughülle, neues Design von Tragflächen – es gibt sehr viele Stellschrauben, an denen Ingenieure zur Lärmvermeidung drehen können. Verzicht kann an dieser Stelle niemals die Antwort auf Fortschritt sein. Denn auch am BER wird es Fluglärm geben, er ist nicht weg, sondern nur woanders.
Tatsächlich gäbe es in Tegel viele Dinge, die im Falle des Weiterbetriebs auf den Prüfstand gehörten. Braucht es neue Technik? Wie ist es um die Infrastruktur bestellt? Was kostet das? Aber vor allem: was bringt es Berlin? Schlüssige Konzepte und mutige Planungen könnten dafür sorgen, dass Berlin in Zukunft mit zwei Flughäfen aufwarten kann. Besonders spannend ist das vor dem Hintergrund, dass dieses Projekt ein ambitionierter Plan der damaligen Landesregierungen aus Berlin und Brandenburg war; er ist aber nun über 20 Jahre alt. Dass Tegel-Kritiker heute die marode Technik ins Feld führen können, hat der Senat selbst verschuldet. Man war sich einig, dass der Flughafen schließen muss – deshalb wurde kaum Geld in die Hand genommen, um den Flughafen in Stand zu halten.
Im Roten Rathaus haben sie sich bislang noch nicht einmal die Mühe gemacht, eine Kostenkalkulation in Auftrag zu geben. Zahlen könnten belegen, was die Offenhaltung von Tegel wirklich kosten würde und wie teuer dazu im Gegenzug eine dritte Start- und Landebahn am BER wäre. In diesem Punkt unterscheiden sich die Stadtverwalter um Michael Müller von flexiblen Unternehmern wie Carsten Spohr. Der Lufthansa-Chef kommt zu neuen Bewertungen, entscheidet anhand von Daten und trifft dann Entscheidungen.
Fragen der Hauptstadtpolitik
In der Berliner Landesregierung wurde 1996 entschieden, dass der BER in Schönefeld entstehen soll und Tegel sowie der Flughafen Tempelhof dafür schließen müssen. Am BER wurden seither nur die Eröffnungsdaten verschoben, am eigentlichen Plan hielt man fest. Doch in den vergangenen 20 Jahren ist eine Menge passiert. Der Markt für Flugreisen ist liberaler geworden. Die sogenannten Billigflieger fluteten den Markt, Air Berlin wurde erst groß und ging dann in die Insolvenz – auch, weil der BER es nicht ans Netz geschafft hat.
Am Beispiel Tegel könnte der Berliner Senat überprüfen, wie flexibel er Hauptstadtpolitik betreibt. Nehmen Sie das Beispiel Wohnungsmarkt. Seit Jahren spitzt sich die Lage zu, die städtische Wohnungsbaugesellschaft GSW wurde 2004 verkauft, Plattenbauten in Marzahn, Hellersdorf und Hohenschönhausen zurückgebaut – Entscheidungen, die der Berliner Senat heute bitterlich bereut. Aus damaliger Sicht waren sie unter Umständen womöglich die richtigen Entscheidungen, Berlin befand sich seinerzeit in einer extremen Haushaltsnotlage.
Flexible Stadtpolitik kann allerdings nicht heißen, dass heute ausschließlich alte Bestände zurück in staatliche Obhut geholt werden, sondern dass neue Gebiete erschlossen, neue Möglichkeiten des Wohnungsbaus gefunden werden. Das große Problem an prominenten Rückkäufen: Sie sind sehr teuer und schaffen nicht eine neue Wohnung in der Stadt. Dabei wäre es viel günstiger, neue Wohnungen zu bauen oder gar bauen zu lassen.
Flexible Politik könnte folgendermaßen aussehen: Dachgeschossausbauten, Baulückenkataster und die Frage, ob Berliner am Tempelhofer Feld nicht doch Nachbarn werden können. Ob Dieselfahrverbote oder das traurige Ende des Google Campus. Wir brauchen künftig einen Kurs in der Stadt, der Neues möglich macht, aber auch Altes bewahrt. Wollen wir in Berlin, dass alles so bleibt wie 1996?
Kommen wir zurück auf Spohrs Bekenntnis zu Tegel: Das Zukunftsszenario für den BER sieht aller Voraussicht nach wie folgt aus. Die möglichen Kapazitäten des Flughafens werden die Passagierzahlen der Zukunft nicht stemmen kommen. Brandenburg wird sich gegen eine dritte Start- und Landebahn wehren. Die Kapazitäten werden also künstlich knapp gehalten. Womöglich haben wir ab 2020 also eine Doppellösung in der Hauptstadt, in der sich BER und Tegel gegenseitig entlasten und gemeinsam Rekorde aufstellen.
Dieser Beitrag lief als Meinungsbeitrag auf n-tv.de am 19. Januar 2019.