Mein Berlin
Bon Voyage, Europa!
´Ein Kirsch-Lutscher, 20 Cent, bitte, danke, hier noch der Bon.` Seit diesem Jahr ist alles ganz anders in deutschen Kiosken, Bäckereien und Bratwurstbuden. Die Bon-Pflicht nötigt den Händlern von Kleinwaren eine Nachweispflicht ab. Die Angst im Kanzleramt ist groß, dass beim Bäcker morgens um 6 Uhr nicht nur Brötchen und Crossaints über die Theke wandern, sondern dass hier und da auch noch kräftig an der Steuer vorbei kassiert wird.
Eine Regierung, die ihren Bürgern misstraut, das ist erst einmal keine gute Ausgangslage für eine offene und freiheitliche Gesellschaft, in der die Verantwortung des Einzelnen als Naturzustand verstanden werden kann. Das ist Sippenhaft; das ist der Generalverdacht, ein Betrüger zu sein. Das alles druckt ein jeder Bon gleich mit aus, dem Familienvätern von Berlin bis Rom zum Eis im Schwimmbad mit überreicht wird. Nun ist das Leben nicht schwarz oder weiß und Absichten nicht immer edel.
In Deutschland entgehen dem Fiskus durch die kleinen Betrügereien laut Bundesrechnungshof rund 10 Milliarden Euro. Eine stattliche Summe. Doch anstatt, dass wir das Problem digital lösen, etwa durch eine Blockchain-Lösung, um Finanzströme transparent zu machen, behelfen wir uns mit einem Papierausdruck, einem behandelten Papierstück. Der Bon wurde bis vor 2 Wochen noch mit Bisphenol A beschichtet. Jetzt ist der verboten, es wird nun mit Bisphenol S beschichtet. Der Stoff soll nicht besser sein. Experten glauben: Die Stoffe stören den Hormonhausalt, sie verschlechtern die Spermienqualität, können Fehlgeburten auslösen, Fettleibigkeit, Herzleiden und Prostatakrebs begünstigen.
Dazu sind die Bons vor allem eines: Müll! Die allein in Deutschland zusätzlich ausgedruckten Bons in deutschen Backstuben ergäben eine Papierrolle, die sich 25-mal um die Erde wickeln ließe. Das alles, obwohl wir uns doch alle vorgenommen haben, weniger Müll zu machen.
Sind die Prioritäten da richtig gesetzt? In Deutschland hat noch nie eine Bundesregierung über alle Ressorts hinweg so viel über den digitalen Wandel sinniert, noch nie hat eine Bundesregierung nach so viel Ankündigung so wenig geliefert. Gibt es keinen Sachverstand in den Ministerien, ist der Ressortzuschnitt falsch gewählt? Immerhin gibt es noch kein Digitalministerium, das den ganzen Wildwuchs im Kabinett zurecht stutzt, damit die Digitalia, ein bislang noch zartes Pflänzchen, gedeihen kann.
Ähnlich ist das Bild in anderen europäischen Ländern. Portugal bekam die Bon-Pflicht im Zuge des Euro-Rettungsschrims aufgedrückt. In Italien wird schon seit den späten 80ern zu Espresso und Co. gedruckt. In der Schweiz verabschieden sich einige Detailhändler nach und nach vom Bon. Natürlich gibt es auch schon papierlose Lösungen, die den Zettel als E-Mail oder SMS verschicken. Automatisierte Kassenprüfsysteme könnten zudem für mehr Transparenz sorgen. Doch auch das Handschlaggeschäft wird dadurch nicht ein Stück mehr transparent.
Wie schlecht die Bon-Pflicht umgesetzt wird, zeigt sich auch an daran, dass es zu den offenen Ladenkasse – besonders kleine Einzelhandelsgeschäfte, Boutiquen oder Kioske setzen vielerorts noch auf Fächer, Kisten oder Kassetten zur Geldaufbewahrung – keine entsprechenden digitalen Angebote gibt, die bei der engen Dokumentationspflichten nützliche Helfer sein könnten. Besonders die analogen Abgeordneten der CDU freuen sich so übrigens über den Brötchenverkauf vor den Ausschüssen des Bundestages – ganz ohne Zettelwirtschaft.
Im Spannungsfeld von technologisch Möglichem und gesellschaftlicher Kritik verlieren wir uns in Europa oft im Kleinklein des Alltäglichen. Millionen Europäer berichten täglich auf Instagram, was sie gerade zum Mittag hatten, wo sie gerade Urlaub machen oder zeigen und wie das Zimmer der eigenen Kinder aussieht. Auf der anderen Seite sind ein wirkungsvoller Datenschutz und das Recht auf Anonymität – übrigens nicht nur im Internet – Bürgerrechte. Daran sollten wir nicht rütteln. Doch wir müssen darüber reden, was wir uns zutrauen sollten und vor dem Hintergrund globalen Wettbewerbs müssen. Die nicht mehr ganz so neue Datenschutzgrundverordnung beispielsweise verlangt von Unternehmern mit mehr als 10 Angestellten, dass ein 11 dazu kommt, auf dessen Unternehmensvisitenkarte Datenschutzbeauftragter steht. Ist das verhältnismäßig?
Europa hat seine Geschicke in die Hände seiner Geschichte gelegt, das sind dieselben Hände, die uns jetzt die Kehle abdrücken. Die Transparentmachung von Zahlungsströmungen etwa könnte zu einem Initial werden können, einem Fingerzeig, dass wir nicht mit unseren Traditionen brechen, dass wir aber genau hinschauen, wie wir Bürgerrechte schützen können, wie wir Arbeitnehmerrechte nicht aus den Augen verlieren und dennoch mit Indien und China mithalten können. Ein jeder Bon druckt genau das nicht aus.
Dieser Text erschien als Gastbeitrag auf NZZ.ch am 13. Februar 2020.